Kurzbericht "Prekäre ambulante Pflegeversorgung"
Ausgangslage
In den letzten Jahren häufen sich Informationen über kurzfristige Kündigung von Betroffenen, auch in der Intensivpflege, durch ambulante Pflegedienste. Die Betroffenen, Angehörigen und Familien geraten in erhebliche Existenznot, wenn sich kein Ersatz findet. Behörden, Krankenversicherungen und Pflegestützpunkte können keine Abhilfe schaffen. Die Betroffenen bleiben auf sich gestellt. Ihre Daseinsvorsorge, für die die Kommunen zuständig sind, ist gefährdet.
In letzter Zeit häufen sich auf Meldungen, wonach auch die Entlassung von Pateinten im Krankenhaus, die eine ambulante Wundversorgung benötigen, erschwert ist. Und selbst auch der Zugang von Pflegebedürftigen aus der ambulanten Pflege in die stationäre Pflege (Pflegeheim) ist oftmals erschwert.
Während in der stationären Pflege die kommunale bzw. staatliche Heimaufsicht zuständig ist, scheint ambulante Pflege ein "Privatvergnügen" zu sein, welches dem freien Spiel des Gesundheitsmarktes und keinerlei daseinsfürsorgerischer Aufsicht, Einflussnahme und Steuerung zu unterliegen scheint.
Demgegenüber sind in § 7c SGB XI (Pflegeversicherung) die "Verordnungsermächtigung und Aufgaben", und in § 8 die "gemeinsame Verantwortung" für die ambulante humane und angemessene Versorgung im Zusammenwirken von Ländern, Kommunen, Pflegestützpunkten, Pflegekassen, Pflegeinrichtungen, Pflegediensten und Medizinischen Dienst festgelegt.
Pflegestützpunkte haben die Aufgabe der Beratung, Koordinierung und Steuerung der pflegerischen Versorgung. Die Pflegedienste müssen diese Versorgung fachlich ordentlich durchführen, und die Krankenkassen (Pflegeversicherung) haben durch entsprechende Verträge für genügen Pflegedienste zu sorgen.
Unsere Aktivitäten
Vor diesem Hintergrund hat das Neuro-Netzwerk Weser Ems e.V. (NNWE), welches als gemeinnütziger und ehrenamtlicher Verein von Betroffenen, An- und Zugehörigen sowie Professionellen sich um die Verbesserung der ambulanten Pflege, Rehabilitation, Nachsorge und Teilhabe von Menschen mit Hirnschädigung oder neurologischer Beeinträchtigung kümmert, sich am 2. November 2021 mit einer Stellungnahme und Gesprächsanfrage an den Pflegestützpunkt der Stadt Oldenburg und des Landkreises Friesland, an das Referat Pflege des Paritätischen Landesverbandes Niedersachsen und an die Landesbehindertenbeauftragte Niedersachsen gewandt<:
Wir beobachten mit großer Sorge zunehmend drei große Problemfelder im Bereich der ambulanten Pflege:
- Der zunehmende Fachkräftemangel im Bereich Pflege, der zunehmend nun auch nicht nur die ambulante Pflege, sondern auch die stationäre und ambulanten und stationären Intensivpflege beeinträchtigt, und zwar in einem besorgniserregenden und die gesetzlich zu sichernde Daseinsvorsorge in Frage stellendem Maße. Dies ist nicht erst unter Coronabedingungen so, sondern die Pandemie hat dieses Problem nur brennglasartig sichtbar gemacht und verstärkt.
- Immer wieder erreichen uns aus dem Weser-Ems-Gebiet Anfragen und Berichte von Mitgliedern und Nichtmitgliedern, meist pflegende Angehörige, dass die ambulanten Pflegedienste wegen Personalmangel, Unterbezahlung und weiter Transportwege (im ländlichen Raum wie Niedersachsen) kündigen und die pflegende Angehriogen samt Betroffenen allein gelassen werden. Viele der Betroffenen sind schwerstbehindert, chronisch neurologisch krank/beeinträchtigt und auf Pflegedienste angewiesen. Unsere Versuche, diese prekären Notlagen durch Interventionen bei Kommunen, Landkreisen, Behindertenbeauftragten und Politikern einschließlich Arbeitskreis Gesundheit Weser-Ems abzumildern, sind erfolglos geblieben. Stattdessen hat sich der Eindruck verdichtet, dass, im Unterscheid zur stationären Pflege, die der Heimaufsicht und damit der stattlichen Aufsicht bzw. Fürsorge nicht entzogen ist, die ambulante Pflege samt pflegenden Familien davon ausgenommen ist und mit ihren Nöten allein gelassen, sozusagen von jeglicher Daseinsvorsorge freigestellt, ist und ambulante häusliche Pflege unausgesprochen zur Privatsache/zum Privatrisiko erklärt wird. Insbesondere scheint es hier keine strukturierten rechtlichen Ansprüche auf die Daseinsvorsorge sichernde Pflege, Nachsorge und Teilhabe zu geben.
- Ganz besonders nehmen wir dies für die beeinträchtigen Gruppe der Intensivpflegebedürftigen in der Außerklinischen Intensivpflege (AIP) wahr, die in besonderem Maße um des Überlebens Willen auf adäquate Pflege angewiesen sind. Wir gehen davon aus, dass Sie über die Umwandlung des RISG unter dem dominanten Einfluss der Krankenversicherungen und des SGB V zum GKV-IPReG ausreichend informiert sind; wir gehen ferner davon aus, dass Sie informiert sind, dass der G-BA vom BMG gesetzlich dazu beauftragt worden ist, entsprechende Richtlinien für die AIP zu entwerfen. Durchgestochene Informationen aus dem Richtlinienentwurf, dessen abschließende Anhörung am 19. Nov. 2021 in Berlin mit besonders berechtigten Organisationen und Fachverbänden stattfinden soll, haben aufgezeigt, dass nun plötzlich gerade diese schwerstbetroffene, ambulante und beatmete Personengruppe besonders restriktiven gesetzlichen Regelungen unterworfen werden soll, die das Selbstbestimmungs-, Wunsch- und Wahlrecht wie auch den Anspruch auf Rehabilitation/Teilhabe (SGB IX) empfindlich einschränken und durch fachlich nicht dafür ausgebildete Ärzte des MDK überwacht werden sollen. Dagegen sind nicht nur Selbsthilfeund Behindertengruppen sturmgelaufen; einen Eindruck zu den Argumenten dieses Protests erhalten Sie vom GKV-IPReG ThinkTank, einem Zusammenschluss von ca. 40 Selbstvertretungsorganisationen, Fachleuten aus Pflege und Beatmungsmedizin wie vor allem auch vonseiten der beatmeten Betroffenen, ihren Angehörigen, Familien sowie Müttern von beatmeten Kindern und Jugendlichen. Eine Kurzversion der Stellungnahme des GKV-IReG ThinkTank ist erhältlich unter https://app.box.com/s/z1bzknnrqjb6jzlmnshndakhybqw764t/file/819851956496
In Berlin läuft dazu gerade eine große Medien- und Pakatkampagne "Leben mit außerklinischer Intensivpflege ist vielfältig" an.
Meine Frage ist, ob Sie diese Situation auch so einschätzen und uns aus Ihrem Erfahrungsbereich bestätigen können?
Wenn ja, wie können wir Sie bei Ihren Bemühungen, Abhilfe zu schaffen und die (politische!) Öffentlichkeit zu sensibilisieren, unterstützen?
In Erwartung Ihrer Antwort verbleibe
ich mit freundlichen Grüßen,
Prof. Dr. med. Andreas Zieger
Vorsitzender des Vereins